Von dem See, der eben noch in der Sonne geglitzert hatte, war nichts mehr zu sehen. Innerhalb weniger Minuten waren bedrohlich dunkle Wolken am Himmel aufgezogen. Der Wind toste um uns herum und peitschte uns die Regentropfen an unsere Körper. Das Wetter in Schottland ist unberechenbar und erbarmungslos – das mussten mein Bruder und ich mehr als einmal während unserer Reise durch die Highlands feststellen.

Eine Woche waren wir in Schottland unterwegs. Da wir beide keine Erfahrungen im Linksverkehr haben und das Netz öffentlicher Verkehrsmittel ziemlich gut ausgebaut ist, hatten wir beschlossen, uns mit Bus und Bahn fortzubewegen. Ausgangspunkt unserer Tour war Glasgow, wo wir am späten Nachmittag ankam. Wir checken in unser zentral gelegenes Hostel ein und brachen sogleich auf, um die Stadt im Licht der untergehenden Sonne zu erkunden. Glasgow würde ich als einen Mix aus typisch britischer Großstadt (Doppeldecker-Busse, Pubs, Cafés, altehrwürdige Gebäude, Backstein-Architektur) und Industrie-Charme (Baukräne, verglaste Bürogebäude und mit Graffiti besprühte, halb abgerissene Häuser) bezeichnen.



Wir kamen am Lighthouse vorbei, einem Turm, der zugleich einen Verlag und ein Museum beheimatet. Leider schon geschlossen bei unserer Ankunft. Dann führte unser Weg durch die Merchant City, ein Viertel mit Designer-Boutiquen und ehemaligen Lagerhäusern, sowie zum George Square, dem Hauptplatz der Stadt. Hier befindet sich unter anderem das Rathaus, die Glasgow City Chambers. Ebenfalls ein eindrucksvolles Gebäude mit kunstvollen Schnörkel-Elementen und mehreren Türmchen, die sich in den Himmel schieben. Eigentlich der perfekte Ort, um Menschen zu beobachten. Doch der Wind und die wilde Mischung an Musik (ein Geigen-Spieler, der in Endlosschleife „Despacito“ zum Bestens gab, gepaart mit einem Dudelsack-Spieler) schlugen uns in die Flucht. Über die Portland Street Suspension Bridge kamen wir auf die andere Stadtseite und liefen noch kurz am Flussufer entlang, bevor wir müde und erschöpft in unsere Hostel-Betten fielen.

Am kommenden Morgen ging es direkt weiter. Ausgestattet mit Frühstück und Kaffee setzten wir uns in einen Zug Richtung Westen. Die Stunde Fahrt bis zu unserem Endziel Balloch kuschelten wir uns in die gemütlichen Sitze. Langsam verwandelte sich die Beton-Wüste in flache, grüne Landschaft. Es beruhigte mich, die Stadt zu verlassen und Richtung Natur aufzubrechen. Auf dem Fenster waren noch einige Regentropfen vom vorangegangenen Schauer hängen geblieben. Gedankenverloren schaute ich ihnen beim Trockenen zu. Währenddessen zogen Seen und schottische Kleinstädte an uns vorbei: Fein säuberlich aneinandergereihte Häuser mit Gärten, in denen sich buntes Kinderspielzeug stapelte. In Balloch angekommen, konnten wir direkt unser schnuckeliges Bed and Breakfast beziehen. Dort blieben wir aber nicht lange, sondern stiegen wenig später in einen Bus, der uns nach Balmaha bringen würde, ein Dorf, das mitten im Loch Lomond Nationalpark liegt.


Der namensgebende See ist mit 72 Quadratkilometern flächenmäßig der Größte See des Landes und der gesamten britischen Insel. Die Straße dorthin schlängelte sich durch ein saftig grünes Tal, auf dessen Wiesen Schafe und Büffel weideten. In der Ferne tauchten allmählich Hügel und Berge auf. Einen davon, den Conic Hill, wollten wir besteigen. Der Bus spuckte uns an einem Parkplatz mit Visitor Center aus. Den Anfangspunkt unseres Wanderweges fanden wir sofort. Alles war wunderbar markiert und gut ausgeschildert. Nach einem kurzen Waldstück führte die restliche Strecke bergauf über freie Fläche, geprägt von Gras, Farnen und Heidekraut. Vereinzelt schauten graue Felsen aus dem Boden hervor, als hätte ein trotziges Kind seinen Pinsel in die dunkelste Farbe seines Malkastens getaucht und wahllose Kleckse in einem ansonsten leuchtenden Landschaftsbild verteilt. Die Sonne hatte sich vor die Wolken geschoben und wärmte uns ordentlich auf.


Als ich meine Jacke auszog, rief mir ein entgegenkommender Tourist zu: „Die wirst du noch brauchen, ist windig da oben!“ Er sollte recht behalten. Während wir dem Gipfel entgegenwanderten, drehten wir uns immer wieder um und bewunderten den riesigen See, aus dem sich grüne Inseln erhoben. Je weiter wir nach oben kamen, desto mehr Wolken zogen auf. Der Wind nahm zu. Zunächst ein sanftes Flüstern, wurden die Böen schnell zu einem Rauschen und schließlich zu einem gnadenlosen Brüllen. Damit die Böen uns nicht umwarfen, mussten wir uns ins nasse Gras kauern. Nach wenigen Sekunden waren selbst unsere Regenjacken vollkommen durchnässt. Wir harrten auf der Bergspitze aus, doch Besserung war nicht in Sicht. Deshalb machten wir uns trotz Unwetter langsam an den Abstieg. Genauso unvermittelt wie der Regen aufgezogen war, endete er. Plötzlich gewann die Sonne wieder die Oberhand und der Wind nahm ab. Trotzdem war ich völlig durchgefroren, als wir wieder unten ankamen. Wir liefen noch ein Stück den Loch Lomond entlang.


Vorbei an einem kleinen Hafen und einem weiß gestrichenen Haus mit blau lackierten Fensterrahmen, von denen die Farbe abblätterte. Auf der Busfahrt ließ ich mich von der angewärmten Heizungsluft einlullen und schlief sofort ein. Wir waren erledigt für den Tag. Lediglich einen Gang zum Supermarkt schafften wir noch, bei dem wir – natürlich – vom Regen überrascht wurden.