Mexiko / Yucatán: Valladolid – endlose Gastfreundschaft und eine Nacht mit viel Rum

Drei Minuten vor dem Weckerklingeln schlage ich die Augen auf. Ich schäle mich aus dem Bett und bereite mich für den Aufbruch vor. Es ist halb sechs morgens, noch vor Sonnenaufgang. Am Wasserspender treffe ich eine Italienerin, die mit ihrem Freund ebenfalls zur Fähranlegestelle aufbrechen will. Während wir beide locker quatschen, schlurft ihr Partner grummelig mit zwei gigantischen Rollkoffern im Schlepptau hinter uns her. „Keine Sorge, er ist voll nett, aber einfach kein Morgenmensch“, verrät sie mir und lacht. Einen Kaffee könne sie allerdings auch gebrauchen, fügt sie hinzu und sieht sich am Pier von Holbox verzweifelt nach einem Kiosk um. Als wir auf das Schiff dürfen, strömen alle Passagiere auf das Oberdeck, um den Sonnenaufgang zu beobachten. Meeresrauschen, die ersten Möwen, völlig Stille – bis einer den Reggaeton aufdreht.

Sonnenaufgang auf der Fährüberfahrt von Holbox nach Chiquilá

Sonnenaufgang auf der Fährüberfahrt von Holbox nach Chiquilá

Der warme Wind streicht mir übers Gesicht. Der dunkel-orangene Streifen am Horizont breitet sich zu einem gold-gelben Band aus, das nach und nach den Himmel umspannt. Die Wolken, die sich wie Pferde am Horizont aufbäumen, nehmen einen rosafarbenen Ton an. Viel zu schnell legen wir wieder am Festland an, wo ich gemeinsam mit meinen Begleitern in ein Sammeltaxi nach Valladolid steigen werden. Während wir auf das Fahrzeug warten, steuere ich einen kleinen Verkaufsstand an, in dem zwei Mexikanerinnen Musik von Eminem aufgedreht haben. Neben Saft bieten die Frauen auch Horchata an, ein traditionelles Erfrischungsgetränk, basierend auf Reismilch und winterlichen Gewürzen. Mit dem süßen, cremigen Shake in der Hand setzte ich mich neben die Italienerin, die den Tag mit Kaffee (endlich!) und einer Zigarette beginnt. Vor uns fegen Frauen die noch leere Straße. Die Taxifahrer, auf Kundschaft wartend, feixen miteinander und lachen donnernd.

Fähranleger von Chiquila

Wir sitzen im Collectivo. Über uns poltert es, als der Fahrer auf das Dach klettert, um die Koffer festzuzurren. Ich bin froh, dass mein kleiner Rucksack zwischen meine Beine passt. Nachdem wir ein paar Meter gefahren sind, hält der Mann hinter dem Steuer an und bietet einem Einheimischen, der die Straße entlanggeht, eine Mitfahrgelegenheit an. Offensichtlich keine Seltenheit, denn er stoppte noch ein paar weitere Male. Eine Frau mit sternenförmigen Ohrringen und Shirt mit Ananas-Print steigt ein, wenig später ein Mädchen in Schuluniform mit rot geschminkten Lippen.

Bunte Häuser in Valladolid

Ich wandere durch die mit bunten Häusern gesäumten Straßen. Mintgrün, leuchtendes orange, rostrot und azurblau. Davor sitzen alte Damen, die Mandarinen schälen und abgepackte Ananas-Scheiben verkaufen. An jeder Ecke bieten die Abueles und Aubelos selbst angebautes Obst, Gemüse oder hausgemachtes Street-Food an. Für umgerechnet nicht einmal einen Euro kaufe ich mir eine Tamale: Ein mit Reis und Bohnen gefülltes Bananenblatt. Kuschelige Lokale und viele, viele Läden prägen Valladolid. In den Geschäften gibt es alles von Bekleidung über Schreib- bis hin zu Haushaltswaren – und natürlich Souvenirs. Der Tourismus scheint hier dennoch unauffälliger, drängt sich weniger auf. Als ob er sich leise und unauffällig in das Stadtbild schmiegt. Es gibt so viel zu sehen. Ich wandere durch die Gassen – bis die Hitze mich matschig gemacht hat.

Ältere Dame sitzt vor ihrem Haus in Valladolid und schält Mandarinen

Geschlossener Kiosk an einer Straßenecke in Valladolid

Pause auf dem schattigen Hauptplatz, dem Parque Principal Francisco Cantón Rosado. In der Mitte steht ein Brunnen mit der Statue einer Maya-Frau, dahinter erhebt sich eine majestätische Kathedrale aus Stein. Auf den Gehwegen des Parkes finden sich Street Food-Buden und Verkaufsstände. Ich gönne mir ein Kokos-Eis, wobei der Verkäufer ich und von Steinchen beworfen werden, die aus seinem dröhnenden Rasenmäher schießen. Währenddessen verleihen ein paar andere Männer den verschnörkelten Sitzbänken einen neuen Anstrich. Alle scheinen bemüht, den Glanz zu erhalten. Die Sonne brennt auf mein Gesicht. Das Eis zergeht auf meiner Zunge. Um mich herum kreisend Tausende Autos, die um die Wette hupen.

Parque Principal Francisco Cantón Rosado in Valladolid

Foto von mir in einem Spiegel

Die menschgroßen Buchstaben, die den Namen der Stadt bilden, gibt es in nahezu jedem etwas bekannteren Örtchen. Die Lettern, die Valladolid bilden, stehen vor dem Convento de San Bernardino, dem einstigen Hauptsitz der Franziskaner, von dem die anfängliche Missionierung der Maya ausging. Jeden Abend findet dort eine Lichtshow statt. Mit Scheinwerfern wird die Geschichte der Stadt auf die Mauern des alten Gebäudes projiziert. Diese verpasse ich jedoch – weil ich plötzlich jede Menge Freunde finden sollte.

Convento de San Bernardino, der einstige Hauptsitz der Franziskaner in Valladolid

Häuserzeile in Valladolid

Die Calzada de los Frailes ist die wahrscheinlich hippste Straße der Stadt. Es gibt kleine Bio-Supermärkte, Cafés, die Mandelmilch-Latte anbieten und hübsche Kneipen. Eine davon kündigt das bevorstehende Fußball-WM-Spiel Mexiko gegen Saudi-Arabien an – zugleich die letzte Möglichkeit für Mexiko, ins Achtelfinale einzuziehen. Die Spannung und die Atmosphäre will ich auf keinen Fall verpassen. Mit einer Vorahnung, dass es super werden würde, betrete ich das Lokal – und bin zunächst überrascht, dass sich hinter dem von außen eher urig aussehenden Laden so eine elegante, schicke Bar verbirgt. Außer einer Gruppe junger Männer sind noch keine Gäste da. Das Fußball-Spiel läuft auf einem großen Flachbildschirm, daneben steht eine Heiligenfigur – für eine Extra-Portion Unterstützung? „Eigentlich müsste man ihn kopfüber aufstellen“, klärt Wilo mich wenig später auf. San Judas Tadeo sei der Heilige, den man anbetet, wenn man auf ein Wunder hofft. Diese Wirkung entfalte er jedoch nur, wenn man ihn kopfüber aufstellt.

Bar mit Fernsehbildschirm, auf dem das WM-Spiel Mexiko gegen Saudi-Arabien läuft

Wilo, ein netter, lustiger und intelligenter junger Mann, hatte gefragt, ob er sich neben mich setzen dürfe. Die Bar hatte sich nach und nach gefüllt mit noch mehr ausländischen Touristen und Einheimischen. Schnell kommen wir ins Gespräch, ich stelle ihm tausend Fragen über die mexikanische Kultur, er mir über Europa. Da er selbst ein Hostel betreibt, habe er jede Menge Leute aus Europa kennengelernt. Fast überall auf dem Kontinent habe er Amigos und Amigas, die er unbedingt besuchen möchte. Wir teilen Guacamole und Tortillas und fiebern ordentlich mit. Mexiko gewinnt zwar, scheidet aber trotzdem aus dem Turnier aus. Meine neue Bekanntschaft und ich verabreden uns für den Abend.

Bunte Häuser in Valladolid

Die Lust auf soziale Kontakte ebbt nicht ab. Ich will noch mehr Einheimische kennenlernen, noch mehr über ihre Bräuche und Traditionen wissen. Über Couchsurfing treffe ich mich mit zwei weiteren Mexikanern. William, ein Zahnarzt in meinem Alter, holt mich an meinem Hostel ab und führt mich zu einem seiner Lieblingsorte der Stadt, einer Cantina. Dabei handelt es sich um altmodische, typisch mexikanische Kneipen, die selten mehr im Angebot haben als Tequila und Bier. Durch eine Schwingtür aus Holz betreten wir das Lokal. Außer uns sitzt – oder eher hängt – noch ein weiterer Gast an der Theke. Die Wand an der Bar ist mit Fliesen bedeckt, von denen bereits einige abgebrochen sind. Ich bestellte eine Cola, William ein Bier – schließlich müsse er nachher noch weiterarbeiten, Feierabend habe er erst um neun Uhr abends. Wir reden über das Fußball-Spiel, das Reisen, unsere Familien, die Zeit verfliegt. Der Zahnarzt muss wieder an die Arbeit. Und ich mache mich auf zu meiner nächsten Begegnung.

Schattiger, überdachter Durchgang am Hauptplatz in Valladolid

„Ich bin mit einem Kumpel in einer Bar, komm gerne vorbei“, schreibt Darryl über Couchsurfing. Er schickt den Standort hinterher – ich muss lachen, denn es ist dieselbe Bar, in der ich nachmittags Fußball geschaut hatte. Die beiden tragen noch ihre Mexiko-Trikots und sind schon sehr betrunken. Darrys Witze sind lustig, aber auch ein wenig aufdringlich. Sein Freund Jesus, 20 Jahre älter als wir beiden, ist ruhiger – und lustiger. Er hat genau die Art von trockenem Humor, die ich besonders liebe. Außerdem hat er die Fähigkeit, mein Gedanken zu erraten. Er liest aus meinem Gesicht ab, was mir durch den Kopf geht, und spricht es schonungslos aus. Wir trinken Tequila, Rum-Cola, Cocktails und am Ende Carajillo, einen Drink aus Kaffee und Likör 43.

Bunte Wohnhäuser in Valladolid

Jesus erzählt von der Zeit, als er in Rotterdam gelebt hat, von seiner Schwester, die in der Schweiz lebt, seiner verstorbenen Tochter und von seiner Frau, mit der er seit Jahrzehnten verheiratet ist. „Was glaubst du ist das Geheimnis eurer Liebe?“, schreie ich ihm über den Lärm der Salsa-Band hinweg zu. Er denkt kurz nach, streicht sich durch seinen Bart. „Ehrlichkeit“, sagt er schließlich. Wenig später stößt Wilo dazu, während Darryl sich verabschiedet, um sich auf der Tanzfläche an Frauen heranzupirschen. Wir drei trinken weiter, unterhalten uns über die Maya-Kultur. Wilo zählt die größten Irrtümer auf, die über die antike Hochkultur im Umlauf sind. Jesus schwärmt von Ek Balam, einer Maya-Stätte, die weniger bekannt und dementsprechend weniger überrannt ist als Chichén Itzá. Dort könne man sogar auf die Pyramiden klettern. Chichén Itzá steht bereits auf meinem Plan für morgen, Ek Balam ist jedoch abgeschiedener und mit öffentlichen Verkehrsmitteln weniger gut zu erreichen. „Kein Problem. Ich kann mit mir hinfahren, wenn du willst“, schlägt Wilo vor. Darauf stoßen wir an.

Bunt gemusterte Fliesen

Verdammt, der Schlüssel dreht sich keinen Millimeter! Die Eingangstür meines Hostels ist verschlossen und irgendetwas scheint mit meinem Schlüssel nicht zu stimmen. Oder bin ich so betrunken? Verzweiflung und Ratlosigkeit machen sich breit. Dann taucht plötzlich ein anderer Hostel-Gast auf. So ein Glück! Es scheint tatsächlich an meinem Schlüssel zu liegen. Denn auch er kommt damit nicht weiter. Mit seinem Schlüssel allerdings funktioniert es. Wir lachen und beschließen, uns noch in den Garten zu setzen. Ich erzähle ihm von dem Yoga-Retreat, wo ich die zweite Urlaubswoche verbringen werde. „Um dich selbst zu finden?“, fragt er mit einem spöttischen Lächeln. „Von wegen“, antworte ich. „Kann man das überhaupt? Sie jemals selbst finden?“, frage ich zurück. Nein, kann man wahrscheinlich nicht, meint er. Und soll man vielleicht auch nicht, damit das Leben eine spannende Reise bleiben kann, fügte ich hinzu. Wie verabschieden uns fürs Bett, doch treffen uns wenig später beim Zähneputzen wieder. Wir nehmen beide unsere Kontaktlinsen aus den Augen – und bemerken, dass wir dieselbe Sehstärke haben.

Laura

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