Der Rum und der Tequila haben ihre Spuren hinterlassen – in Form von Heißhunger. Bereits um sechs Uhr morgens wache ich mit knurrendem Magen auf. Eine Stunde habe ich noch Zeit, bevor ich in den Bus nach Chichén Itzá, der weltberühmten Maya-Stätte, steige. Direkt gegenüber der Haltestelle bestelle ich in einem kleinen Lokal einen Burrito und einen frischen Ananas-Saft. Ich verbrenne zwar meine Zunge an dem brennend heißen Gemüse in dem Teig-Fladen, dennoch hatte ich kaum je ein besseres Frühstück gegen den Kater.


Um ein Haar hätte ich die Haltestelle verpasst. Der Fahrer stoppt nur kurz, ich habe kaum Zeit, meine Sachen wieder zusammenzupacken und von ganz hinten, wo ich mich ausgebreitet hatte, an die Tür zu hechten. Bis zum Eingang von Chichén Itzá sind es noch einige Minuten Fußweg, auf denen – wie es sich für eine der meistbesuchten Attraktionen des Landes gehört – sich bereits zahlreiche Händler postiert haben. Mehr als zahlreich sind die Besucher, die bereits am frühen Morgen die Ruinenstadt besichtigen. Man hat mir angeraten, so früh wie möglich zu kommen, da der Ansturm über den Tag hinweg nur zunimmt. Ich reihe mich in die Schlange, zahle den Eintritt und bin bereit, mich von der erhabenen Schönheit der Maya-Bauwerke begeistern zu lassen.


Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Vor mir reckt sich die Pyramide des Kukulcán gen Himmel, das Herzstück von Chichén Itzá. Mit einer Höhe von 30 Metern thront der stufenförmige Bau mit seinem Tempel auf der Spitze über alle anderen Gebäude. Während die Sonne meinen Kopf verbrennt, umrande ich andächtig das Bauwerk aus Stein und wünschte, ich könnte in der Zeit zurückreisen, um das Leben der Maya mit eigenen Augen zu sehen. Über die historische Stätte verteilt finden sich kleinere Pyramiden, Säulen und Gebäude mit kunstvollen Verzierungen. An einer steinernen Plattform, aus der ein runder Turm ragt, bleibe ich wieder stehen. Das Gebäude nennt sich „Caracol“ und war als Observatorium gedacht. Eine Treppe im Inneren des Turms führte die Maya 16 Meter in die Höhe, auf eine Plattform, von der aus sie den Himmel beobachteten. Kaum zu glauben, dass das antike Volk alle diese mystischen Bauwerke mit bloßen Händen gebaut hat. Welche Geheimnisse sie wohl hier zurückgelassen haben?


An der heiligen Cenote lege ich eine Pause ein. Cenoten sind mit Wasser gefüllte Karsthöhle, die einst unter der Erde lagen. Mit einer frischen Kokosnuss in der Hand wage ich mich an den Rand des metertiefen Wasserlochs. Die Wasseroberfläche schimmert smaragdgrün. Büsche, Bäume und Palmen wachsen in die Höhle hinein. Die Cenoten dienten den Maya als Wasserquelle. Darüber hinaus hatten sie eine spirituelle Bedeutung. Man vermutete dort den Eingang zur Unterwelt und den Sitz des Regengottes Chac. Deshalb haben die Maya immer wieder Opfergaben – auch menschliche Opfer – in das Wasserloch geworfen.


Jeder Quadratzentimeter von Chichén Itzá, auf dem keine historischen Gebäude stehen, ist von Händlern eingenommen. Sie bieten allerlei Souvenirs, die meisten davon zum Spottpreis – sie verlassen sich auf die Massen, die sich zur frühen Stunde noch gut über das riesige Areal verteilen. Die Verkäufer beschallen ihre Stände mit ihrer eigenen Musik. Von Rap über Salsa und Mariachi bis zu Reggaeton ist alles dabei. Bei einem gut gelaunten Señor kaufe ich zwei Kühlschrankmagneten für meine Eltern. Der Mann gibt mir zwei Wörter aus der Maya-Sprache mit auf den Weg. Bei einem anderen Händler kaufe ich eine Kette mit einem Anhänger aus Obsidian. Von dem Schmuckstück bin ich besonders fasziniert, da man die Sonne durch den Stein hindurch sehen kann. Andere Händler bieten mir einen „Mexican Boyfriend“ an. Es dauert über zwei Stunden – und viel Schweiß – bis ich die historische Stätte abgelaufen habe. Am Ausgang angelangt, kann ich direkt in einen Bus zurück nach Valladolid steigen.


Ich verspeise gerade die letzten Bissen meiner Tamale, als Wilo mit seinem klapprigen, himmelblauen Oldtimer vor mir hält. Wir fahren zu seinem Hostel und sitzen in dem kleinen Innenhof, der der Unterkunft zugleich als Küche und Gemeinschaftsraum dient. Wenig später brechen wir nach Ek Balam auf, dieses Mal mit einem Motorroller. Die sanften Strahlen der bereits untergehenden Sonne und der Fahrtwind im Gesicht fühlen sich wie eine wohltuende Massage an.

Wir gehören zu den letzten Besuchern des Tages. Ek Balam ist ein krasser Gegensatz zu Chichén Itzá. Kleiner, aber nicht weniger beeindruckend. Doch vor allem – still. Wir hören die Vögel singen und den Wind durch die Bäume streichen. Die mystische Atmosphäre, die besondere Energie dieses heiligen Ortes wird spürbar. Sie scheint von den Füßen aufwärts durch meinen ganzen Körper zu kribbeln. Wir sprechen leise, flüstern geradezu. Wilo kennt sich aus in der Maya-Kultur und erklärt mir alles, was er über Ek Balam und die Geschichte von Yucatán weiß. „Das dort vorne sind Verteidigungsmauern“, erläutert er und zeigt auf einen etwa hüfthohen Steinhaufen. „Nicht besonders groß für Verteidigungsmauern“, merke ich an. „Die Maya waren ja auch klein“, entgegnet er mit einem Grinsen. Sehr hoch hingegen ist die Haupt-Pyramide, die die Besucher hier sogar besteigen dürfen. Über 100 Stufen führen uns an die Spitze. Ich bin außer Atem, als wir oben ankommen. Der Ausblick macht mich sprachlos. Saftig grüne Wälder soweit das Auge reicht, nur die gigantischen Maya-Bauten ragen zwischen den Wipfeln hervor. Auf dem Weg nach unten spannt sich plötzlich ein Regenbogen über den Himmel.


Wir erklimmen noch eine zweite Pyramide. Jetzt bin ich dran, von meiner Kultur zu erzählen. Wilo möchte wissen, ob Tinder in Europa wirklich so verbreitet sei und ob sich manche tatsächlich nur zum Sex verabreden. Ich muss grinsen. Ja, das ist tatsächlich sehr verbreitet, antworte ich. Er schüttelt den Kopf. „Wenn man miteinander ausgeht, fühlt man sich doch auch irgendwie verbunden“, meint er. Unter seiner Lebensfreude und seinen lustigen Anekdoten verbirgt sich eine nachdenkliche Seite, die hier auf der Maya-Pyramide von Ek Balam zum Vorschein kommt. Wir unterhalten uns, bis ein Wächter vorbeikommt und uns zum Gehen auffordert – sie schließen jetzt. Auf dem Roller rasen wir den kurzen Weg zurück nach Valladolid, wo Wilo mich am Bus-Terminal absetzt. Nächster Stopp: Playa del Carmen.