Albanien – Theth: Reifenwechsel auf der Bergstraße

„Liebe ist die Kraft, die alle Hindernisse überwindet“, las ich auf dem Zettel aus dem Glückskeks, den mir mein Sitznachbar während des Landeanflugs geschenkt hat. Von ihm, einem Einheimischen, lernte ich auch mein erstes albanisches Wort: „Faleminderit“ – „Danke“. Dass der weise Spruch aus dem Gebäck nicht ganz richtig liegt, sollten wir bereits am nächsten Tag zu spüren bekommen. Denn Liebe kann offensichtlich nicht helfen, einen Reifen zu wechseln. Doch von der bevorstehenden Panne ahnten wir noch nichts, als wir uns kurz nach Mitternacht müde und doch vorfreudig zu einem Hotel am Flughafen Tirana schleppten.

Berglandschaft in Theth

Mit noch mehr Vorfreude und nach einem Frühstück aus Toast, das eher an Pappkarton erinnerte, holten wir am Morgen unseren Mietwagen ab. Ein junger Mann fuhr mit dem Auto, einem zugegebenermaßen sehr dreckigen Skoda, vor. Sein älterer Kollege schrie ihn an, er solle den Wagen waschen, bevor es ihn an die Kunden weitergibt. Schnaubend kehrte der junge Mann wenig später mit einem blitzsauberen Wagen zurück. Und wir machten uns damit sogleich auf den Weg Richtung Norden, den Bergen entgegen. Die Landschaft wurde hügeliger, die Temperaturen kälter. Ein Band aus dichten, weißen Wolken schmiegte sich an die Berge. Wir steuerten runter von der Hauptstraße, hinein in die Natur. Nur noch wenige Steinhäuser standen am Wegesrand. Esel und Pferde trabten über die Straße. Wir konnten uns kaum sattsehen an der grünen Landschaft um uns herum.

Häuser und Schafe in Theth

Dann befanden wir uns auf der Passstraße, die uns nach Theth, einem Bergdorf im gleichnamigen Nationalpark, bringen sollte. Vor zwei Jahren erst ist die Straße vollständig asphaltiert worden, davor war der Ort nahezu abgeschnitten von der Außenwelt. Die engen Kurzen zwangen uns dazu, unser Tempo enorm zu drosseln. Trotzdem genossen wir die Aussicht und hielten an einer breiteren Stelle kurz an, um Fotos zu schießen. Plötzlich hörten wir ein zischendes Geräusch, das nicht so richtig in die Umgebung zu passen schien. Wir drehten uns zu unserem Wagen um und er sprach aus, was uns beiden schon dämmerte: „Wir haben ein Loch im Reifen.“ Tatsächlich sind wir wohl über einen Stein oder einen anderen, sehr spitzen Gegenstand gefahren. Dieser hatte unseren rechten Vorderreifen regelrecht aufgeschlitzt.

Bergstraße in Theth

Die kalte Bergluft pfiff uns um die Ohren, als wir den Ersatzreifen aus dem Kofferraum hievten. Ich war dankbar, dass er wusste, wie man Reifen wechselt. Als Person, die noch nie ein Auto besessen hat, wäre ich daran verzweifelt. Doch auch er kam nicht weiter. Die Schrauben saßen zu fest. Wir beschlossen, das nächste entgegenkommende Auto anzuhalten. Es war ein Wohnmobil mit deutschem Kennzeichen und einem wahren Camper- und Auto-Experten am Steuer. Der freundliche Herr aus Hessen erklärte uns nicht nur, wie wir vorgehen sollten, sondern überwachte auch den ganzen Prozess, um sicherzustellen, dass wir alles richtig gemacht hatten. Erleichtert setzten wir uns zurück in den Wagen und tuckerten weiter die kurvige Bergstraße nach oben. Es war eine Schicksalsbegegnung, sagten wir uns. „Der Mann hat jetzt einen Stein im Brett bei mir“, sagte er. „Besser im Brett als im Reifen“, antwortete ich.

Vereinzelte Häuser in Theth

Fluss, der durch die Berglandschaft fließt

Theth sei sehr einsam, hatte uns der Camper erzählt. Kein anderes Wort scheint besser zuzutreffen auf dieses winzige Bergdorf. Nicht einmal hundert Menschen leben noch hier. Viele haben den Ort wegen der abgeschiedenen Lage und fehlenden Perspektiven verlassen. Seitdem die Passstraße fertiggestellt wurde, wächst der Tourismus jedoch stetig. Deshalb kommen zur Sommersaison viele Einheimischen zurück, um Gäste zu bewirten. Nahezu jedes der verbliebenen Häuser haben die Besitzer zu einer Unterkunft ausgebaut. Man lebt dort – oft mit anderen Touristen – direkt bei einer albanischen Familie, von der man auch bekocht wird.

Ein Gefühl, dass uns an Klassenfahrt erinnert. Als wir vor unserer Bleibe, einem schnuckeligen Holzhaus hielten, arbeitete unser Gastgeber gerade im Garten. Der freundliche Herr führte uns zu unserem Zimmer und bot Kaffee und selbstgebrannten Raki an. Er konnte kaum Englisch, aber mit einfachen Worten konnten wir uns problemlos verständigen. Um uns klarzumachen, dass uns vom Raki warm im Bauch werden würde, reichte auch eine einfache Geste aus.

Blick auf ein lokal am Fuß eines Berges in Theth

Mit der Wärme im Bauch brachen wir zu unserer ersten Wanderung auf. Der Weg führte uns entlang eines Flusses, der sich als himmelblaue Linie durch die dunkelgrüne Landschaft wandte. Es dauerte nicht lange, da hörten – und sahen – wir den rauschenden Wasserfall, der sich über einen der Berge in die Tiefe stürzte. Wie genau wir aber dorthin kommen sollten, blieb uns ein Rätsel. Scheinbar schafften wir es nicht, den Markierungen zu folgen. Denn wir liefen im Kreis und kamen kaum vorwärts.

Wir trafen auf eine Handvoll andere Wanderer. Ein paar spanische Teenager, die Bad Bunny hörten und ein Paar aus England, das uns akribisch den richtigen Weg zu erklären versuchte. Meist aber sahen wir keine Menschenseele, was dem Ort mit seinen gewaltigen, dunklen Bergen und dem nebeligen Regenwetter eine mystische, fast gruselige Atmosphäre verlieh. Wir sogen die Weite und die Stille in uns auf; ein heilsamer Kontrast zu unserem hektischen Alltag daheim.

Grunas-Wasserfall in Theth

Vor uns rannte eine Herde von etwa zwanzig Schafen her. Sie galoppierten über die Schotterpiste, wobei sich das hintere Tier immer wieder umdrehte, als würde es die Umgebung nach Gefahr absuchen. Wo sie wohl hinrannten? In der Ferne konnten wir beobachten, wie die Herde auf eine Wiese zu rannte, wo noch mehr Schafen – vielleicht der Rest der Herde – warteten. Als sie die ankommenden Tiere sahen, blökten sie aufgeregt und liefen ihnen entgegen. Es sah aus wie ein freudiges Wiedersehen.

Schafherde läuft auf ein Haus zu

Der Regenschirm schien viel zu groß für die zierliche Frau, die uns bereits von Weitem zuwinkte. Wir standen neben der Kirche, einem der ältesten Gebäude des Dorfes. Wer „Theth“ googelt, wird sehr schnell eines der Bilder finden, auf dem sich das erleuchtete Gotteshaus von den grauen Bergen im Hintergrund abhebt. Neben einer Familie, die sich zum angrenzenden Friedhof begeben hat, waren wir ­­– und die alte Dame – die einzigen Menschen weit und breit. Die Albanerin kam auf uns zu und teilte ihren Regenschirm mit uns. Ihre Haare waren von einem Kopftuch bedeckt und ihr Lächeln entblößte einen Mund, dem bereits einige Zähne fehlten. Aufgeregt erzählte sie uns von ihrem Handwerk. Sie stricke Pullover und Socken und stelle ihren eigenen Schmuck her. Sie lud uns nachdrücklich in ihr Haus ein, wo sie uns ihre ganzen Waren zeigen würde. Mit ausschweifenden Gesten beschrieb sie den Weg dorthin. Wir vertrösteten sie auf morgen. Zum Abschied drückte sie uns jeweils eine Walnuss in die Hand.

Kirche von Theth

Vater und Sohn mit Regenschirmen vor einer Berglandschaft

Nass und ein wenig durchgefroren zogen wir uns auf unser Zimmer zurück. Aus dem Speisezimmer, wo wir wenig später die anderen Gäste zum Abendessen treffen würden, drang bereits ein köstlicher Duft nach gegrillter Paprika zu uns. Das Gemüse, gefüllt mit Reis, war nur eines von vielen verschiedenen Speisen, die die Frau unseres Gastgebers gezaubert hatte.

Es gab eine würzige Bohnensuppe mit Brot und Käse, Fleisch mit gebackenen Kartoffeln und Karotten, Salat aus Tomaten und Gurken und zum Nachtisch einen Apfel, fürsorglich in Schnitze zerlegt, wie es meine Eltern damals gemacht haben, als ich ein Kindergartenkind war. Uns gegenüber saß eine US-Amerikanerin, die uns von ihrem Auslandssemester in Spanien erzählte. „Wieso hast du dich für eine Reise nach Albanien entschieden?“, fragte ich sie. „Ich wollte ein Land besuchen, von dem ich nichts wusste, von dem ich noch nie was gehört habe“, antwortete sie. Genau wie wir war auf der Suche nach Abenteuer.

Kiste, auf der "Make a wish" zu lesen ist

„Tea or Coffee?“, fragte unser Gastgeber am nächsten Morgen beim Frühstück, das – zum Glück – nicht ganz so üppig ausfiel wie das Abendessen. Bevor wir uns wieder durch die Natur kämpfen wollten, informieren wir unseren Autovermieter und unseren Host über die Reifenproblematik. Letzterer versprach, uns einen Kompressor zu besorgen, womit wir noch mehr Druck in die Reifen geben konnten. Ersterer wies uns an, sobald wir wieder in der Zivilisation waren, den Reifen bei einer Werkstatt tauschen zu lassen, damit wir das Ersatzrad wieder in den Kofferraum packen konnten.

Berglandschaft von Theth

Auf in der Berge. Der Weg führte über eine morsche Brücke, der bereits einige Holzbretter fehlten, dann bergauf. Plötzlich waren wir der rauschenden Kaskade ganz nah. Eigentlich hatten wir ein anderes Ziel für heute anvisiert. Dabei landeten wir zufällig auf dem richtigen Weg zum Wasserfall – ein netter Abstecher. Keuchend stiegen wir wieder ab, während neben uns ein paar Trailrunner aus den USA mühelos den steilen Weg hochsprinteten. Wir orientierten uns neu und fanden schließlich den richtigen Pfad, der uns zum Blue Eye bringen sollte. Aus dem dichten Blätterdach des Waldes tropfte immer wieder der Regen auf uns nieder. Als wir aber zu einer Lichtung kamen und der Weg auf einer Asphaltstraße weiterging, hörte der Regen auf. Wir liefen entlang der riesigen, grün bewachsenen Felswände. Außer vereinzelten Häusern aus Stein fehlte jede Spur menschlichen Leben. Wir fühlten uns einmal mehr wie in einer anderen Welt.

Blick auf das Blue Eye, einen natürlichen Wasserpool

Er bestellte einen Raki. Es war der Beginn seiner Mission, in jedem Lokal den selbstgebrannten Schnaps zu kosten. Ein Junge mit Zahnspange und ein Mädchen mit langem blondem Pferdeschwanz – offensichtlich Aushilfen im Restaurant der Eltern – brachten uns die Getränke sowie Grillgemüse mit Reis an den Tisch. Eine kurze Stärkung, bevor wir den finalen Aufstieg zum Blue Eye begannen. Es wurde felsig und steil. Das letzte Stück zwang uns zur vollen Konzentration. Mit unserem eigenen Atmen und dem beständigen Rauschen des Flusses im Ohr kamen wir der Wasserquelle immer näher. Als letzte Herausforderung wartet eine weitere, sehr fragwürdige Brücke in etlichen Metern Höhe auf uns: Die Konstruktion bestand aus ein paar einfachen Holzbretter, die man auf zwei Baumstämme genagelt hatte.

Gedankenverloren beobachten wir die saphirblauen Wassermassen, die sich in Becken ergossen. Das Blue Eye, eine Wasserquelle mitten im Wald, mitten in den albanischen Alpen. Mit uns rasteten ein paar weitere Wanderer am Ufer. Ein Einheimische verkaufte aus einer einsamen Holzhütte heraus Getränke. Wir bestellten einen Espresso, den Koffein-Kick für den Rückweg.

Eine Espresso-Tasse vor dem Blue Eye

Das Blue Eye von Theth

Wir mussten nur kurz auf den zerfledderten Wanderschuh zeigen. Da war dem Jungen mit der Zahnspange sofort klar, dass die Felsbrocken auf dem Wanderweg der lädierten Sohle den Rest gegeben hatten. Wir waren wieder in dem kleinen Lokal am Fuß des Berges, weil mein Freund sein aufgeschlitztes Schuhwerk richten musste. „Verkauft ihr zufällig auch Schuhe?“, fragte er den Teenager. Das nicht, aber ihm fiel eine andere Lösung ein: Er holte eine Rolle Klebeband, die sein Vater akribisch um das auseinanderklaffende Schuhwerk wickelte. „Faleminderit“, sagten wir, bevor wir den Bergen den Rück kehrten und Richtung Theth zurückliefen. Die Klebe-Vorrichtung hielt nur wenige Meter. Egal, wir marschierten unermüdlich weiter.

Laura

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