Albanien – Berat: Tausend Fenster und ein verlorener Schlüssel

Ich blickte noch einmal auf die zwischen den Bergen gebettete Siedlung zurück, bevor Theth hinter der ersten Kurve verschwand. Von da an richtete ich die Augen konzentriert auf die Bergstraße. Keiner sprach es aus, doch innerlich beteten wir beide, dass die Reifen den Pass dieses Mal überstehen würden. Man erhörte uns: Wir kamen ohne Zwischenfälle auf der anderen Seite an. Der restliche Weg nach Shkodra bestand glücklicherweise aus einer bereiten Autobahn ohne Steigung und Gefälle.

Gasse in der Altstadt von Shkodra mit Blick auf eine weiße Moschee

Den Wagen konnten wir in der Innenstadt abstellen. Früh am Morgen waren wenig Menschen unterwegs. Dichte Regenwolken verliehen dem Ort eine eher trostlose Atmosphäre. Wir flanierten durch die Altstadt. Durch gepflasterte Straßen, vorbei an Häuser mit hölzerneren Fensterläden, Rundbögen und Säulen. Vorbei an einem Café mit Lichterketten an der Markise, an einem Geschäft mit orientalischen Lampen im Schaufenster. Vorbei an bunt bemalte Blumenkästen und einem Graffiti aus weißen Rosen. Die Moschee steht neben der Kirche, wie es in so vielen albanischen Städten der Fall ist. Bis in die 1990er-Jahre war Albanien ein atheistischer Staat, heute dürfen alle Konfessionen gleichberechtigt nebeneinander existieren. Religiöse Toleranz ist in dem mehrheitlich muslimischen Land eine Selbstverständlichkeit.

Café mit Lampen an der Markise in der Fußgängerzone von Shkodra

Graffiti mit weißen Rosen auf einem himmelblauen Untergrund

Zwei Espressi brauchte es, um uns für die Weiterfahrt zu motivieren. Unser Endziel, Berat, war noch mehrere Stunden entfernt, sodass wir die Strecke in Etappen unterteilten. Dazwischen mussten wir dringend bei einer Werkstatt anhalten, um den Reifendruck nachzubessern und uns einen neuen Reifen montieren zu lassen. Das war kein Problem. Reifenhändler („Gomisteri“) finden sich in Albanien in sehr regelmäßigen Abständen am Straßenrand. Das Einzige, das es noch häufiger – etwa alle hundert Meter – gibt, sind „Lavazhos“ (Waschanlagen). Nach einer Stunde Fahrt blinkten wir und steuerten eine kleine Werkstatt-Garage an. Der Chef, der sich eine Zigarette nach der Nächsten ansteckte, inspizierte den Schaden und war schockiert über das abgefahrene Profil der beiden Vorderreifen. Nachdem er am Telefon kurz mit unserem Autovermieter verhandelt hatte, stimmt dieser dem Reifenwechsel zu. Den Kassenzettel sollten wir behalten, damit wir bei der Übergabe des Autos das Geld wiederbekommen könnten. Wir stellten uns vorsichtshalber darauf ein, dass wir keinen Cent wiedersehen würden – damit sollten wir recht behalten.

Orientalische Lampen in einem Schaufenster in Shkodra

Der Wind schlug uns unerbittlich entgegen. Meine Haare peitschten mir ins Gesicht, Sand breitete sich in meinem Mund aus. Die Palmen bogen sich im Wind und das bleigraue Meer brach sich in wilden Wellen am Ufer. Der Zwischenstopp in Durres, einer Hafenstadt 30 Kilometer östlich von Tirana, fiel kurz aus. Der Spaziergang am Meer mit romantischem Abendessen auf der Promenade musste ausfallen. Als beliebter Badeort ist die Stadt auf die Sommersaison ausgerichtet. Die meisten Restaurant waren geschlossen oder hatten nur Getränke im Angebot. Stattdessen setzten wir uns mit Mandeln aus dem Supermarkt – und einem sandig-knirschenden Mundgefühl ­– wieder ins Auto.

Das Meer bricht sich am Strand von Durres

Zur Dämmerung kamen wir in Berat an. Die „Stadt der tausend Fenster“ machte ihrem Beinamen alle Ehre: Die erleuchteten Fassaden der weißen Häuser ließen die Fenster im schwindenden Tageslicht strahlen. Dahinter erhoben sich die Berge, die später mit der Nacht verschmelzen würden. Wir parkten unseren Wagen vor dem mit einer Sonnenblume bemalten Eingangstor des „Maya Hostel„. Voller Tatendrang warfen wir unsere Rucksäcke auf den Betten im Schlafsaal ab und stiefelten los, um den Abend in der hübschen osmanischen Stadt ausklingen zu lassen.

Die Altstadt von Berat bei Nacht

Der Muezzin rief zum Gebet. Aus den Restaurants tönte das Klappern von Besteck. Einheimische saßen mit Musikboxen am Ufer des Osum, dem Fluss, der Berat in zwei Hälften teilt. Die Lichter der Stadt spiegelten sich in dem dunkelblauen Wasser. Über eine Brücke kamen wir auf die andere Seite, wo das Altstadt-Viertel Mangalem sich in den Felsen schmiegt. Verwinkelte, enge Gassen führten entlang der Steinhäuser durch den Stadtteil. An jeder Ecke schien sich ein Geheimnis zu verbergen. Von Rosen umrankten Balkone, versteckte Holztüren und winzige Läden, in denen alte Damen hausgemachte Feigenmarmelade und Wein verkauften. Wir steuerten ein Restaurant an – wo uns sofort ein freudiger Hund entgegen stürmte. Der Eigentümer stellt ihn uns als „Bianco“ vor. Er bedauerte, dass er keinen Platz mehr freihatte, also kehrten wir um.

Gasse im Altstadt-Virtel Mangalem

Meine lockeren Sommerschuhe klackerten auf dem Pflaster, als wir die steilen Gassen wieder nach unten schritten. Wir überquerten den Osum erneut und landeten wieder auf der Seite, auf der unser Hostel lag. Bis auf wenige Lokal schien das Viertel bereits zu schlafen. Eines der Restaurants, das noch geöffnet hatte, war „Enis Traditional Food“. Wir nahmen auf der Terrasse Platz und gaben unsere Bestellung bei dem Kellner auf, dem Namensgebers des Ladens, wie sich später herausstellte. Seine Mutter stand am Herd und bereitete uns köstliche, mit Reis gefüllte Paprika zu. Doch vorher kamen die Getränke. Der beißende Geruch seines Raki steig mir sofort in die Nase. Er kippte das Glas in einem Zug. Es sollte nicht das Letzte bleiben.

Teller mit gefüllter Paprika

Mit der steigenden Anzahl an Raki kamen die großen Fragen auf den Tisch. Wir verstrickten uns in philosophische Diskussionen und vergaßen die Zeit. Schon eine ganze Weile waren wir die letzten Gäste. Wir bezahlten, versprachen, am nächsten Tag wiederzukommen und unternahmen einen Nachtspaziergang unter dem Sternenhimmel. Ich lief, er torkelte, ich stützte ihn.

Von einem Moment auf den anderen traf ihn der Schnaps mit voller Wucht. Dabei war das letzte Glas schon mehrere Stunden her. Aber im Wohnzimmer des Hostels, wo wir unsere Gespräche fortgeführt hatten, schlug der Raki ohne weitere Vorankündigung zu. Zeit fürs Bett. Wir gingen die Treppe nach oben. Er stolperte, ich half ihm, er sackte in sein Bett (wobei er es tatsächlich noch schafften, die Leiter des Stockbettes zu bewältigen). Ich lag noch lange wach. Als würde sich bereits eine düstere Vorahnung in mir breitmachen.

Blick auf Berat bei Tageslicht

Acht Uhr fand ich eine legitime Uhrzeit, um nach der nahezu schlaflosen Nacht aufzustehen. Ich ließ mich neben einer schwarzen, laut miauenden Katze im Wohnzimmer auf das Sofa fallen und wartete auf das Frühstück. Bald erfüllte der Duft nach Kaffee und getoastetem Brot den Raum. Ich weckte ihn. Wir speisten nahezu schweigend, grinsten uns an in der Erinnerung des Abends. Die Auswirkungen des Raki waren verschwunden – unser Autoschlüssel leider auch. Und er tauchte nicht wieder auf. Wir wendeten jede Matratze im Schlafsaal, durchwühlten unsere Taschen Hunderte Male, suchten unter den Sofas und in der Dusche. Alles ohne Erfolg, sodass wir schlussendlich wieder unseren Autovermieter kontaktieren mussten. Einer seiner Kollegen würde zu uns fahren und uns einen Zweitschlüssel übergeben. Zu einem Preis, der uns noch jetzt wehtut.

Wandgemälde in der Altstadt von Berat

Nahaufnahme der weißen Häuser in Berat

Betreten erkundeten wir die Altstadt bei Tageslicht. Mehr Details kamen zum Vorschein. Weinranken und Wandmalereien. Pflichtbewusst suchten wir immer wieder nach Internet, um zu prüfen, ob der Schlüssel-Überbringer sich der Stadt näherte. Dass er für die 120 Kilometer sechs Stunden brauchen würde, wussten wir zu dem Zeitpunkt leider noch nicht.

Verwinkelte Gasse in der Altstadt von Berat

Weiße Töpfe mit bunten Blumen hingen über der Straße, in der sich unser Domizil für die Nacht befand. Es hätte die Kulisse für ein Märchen sein können. Wir standen vor dem Hotel, das sich als eine der schönsten Unterkünfte der gesamten Reise entpuppte. Die Gastgeber waren jedoch nirgends in Sicht. Wir klopften so kräftig an die Tür, dass die Nachbarn gegenüber auf uns aufmerksam wurden. Der Familienvater rief unsere Gastgeberin an, die sogleich völlig außer Atem die Straße entlang gehetzte. Eine sehr herzliche junge Frau mit einem Dauer-Lächeln im Gesicht. Von dem Balkon unseres Zimmers konnten wir die Altstadt und die roten Dächer überblicken. Wir setzten uns in die Sonne und standen erst wieder auf, als uns der Autovermieter anrief.

Steinhäuser, zwischen denen Blumentöpfe hängen

Blick auf das Altstadt-Viertel Gorica in Berat

Endlich hielten wir den Schlüssel in der Hand! Dafür sind wir einige hundert Euro losgeworden. Erleichterung mischte sich mit der Wut über den Wucher-Preis. Um Dampf abzulassen, stiegen wir auf die Burg von Berat. Es war der letzte Programmpunkt, den wir in der Stadt unternehmen wollten. Der Weg führte durch eine Wiese, auf der das Gras fast schon kniehoch wucherte. Dann kamen wir auf die Festung, eine weitläufige Anlage, begrenzt von Steinmauern, auf denen wir entlang balancierten. Wir schauten auf den Osum, die weißen Häuser mit ihren tausend Fenster und die grünen Hügel im Hintergrund. Bei einem einheimischen Händler kauften wir getrocknete Feigen. Den Abend verbrachten wir bei Eni. Wir aßen wieder die Paprika. Er trank wieder Raki – ein paar Gläser weniger dieses Mal.

Touristen laufen über eine Mauer in der Burg von Berat

Teppiche hängen an einer Wand in der Burg von Berat

Laura

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