Dienstag
An dieser Stelle passt nichts besser als folgendes Song-Zitat von Peter Fox: „Frust kommt auf, denn der Bus kommt nicht.“ Schon wieder nicht. Den zweiten Tag in Folge stehen wir erfolglos an der Haltestelle, wütend auf einem Simit kauend. Jede andere Buslinie scheint regelmäßig zu fahren, nur unsere wieder nicht. Von da an meiden wir konsequent jeden Bus in Istanbul.

Doch die Istanbul-Kart macht auch oft genug Probleme. Das Ticket für den öffentlichen Nahverkehr kauft man sich für wenige Euro und lädt es immer wieder auf, was eigentlich an allen Haltestellen möglich sein sollte. In der Metro treffen wir an dem entsprechenden Automaten plötzlich auf einen etwa achtjährigen Jungen. Er weiß sofort, was wir wollen und bedient geschickt den Touchscreen für uns, sodass wir in nur wenigen Sekunden die Karte aufgeladen haben. Dafür will er natürlich ein paar Lira. Gewieft – und irgendwie auch traurig. Unser Zug brettert unter dem Bosporus durch und spuckt uns auf der asiatischen Seite Istanbuls wieder aus.


Mitten in Kadiköy, auf Spurensuche des Fußballvereines Fenerbace. „Ich dachte, du weißt, wo das alles ist“, werfe ich ihm vor. Er schüttelt den Kopf, ein verschämtes Grinsen auf den Lippen. Wir sind mitten in einer Wohngegend ausgestiegen. Kinderspielplätze, breite Gehsteige, hohe, gepflegte Häuser mit großen Fenster-Fronten. Fernab jeglichen Fußball-Hypes. Nach langem Marsch in der Hitze finden wir unser Ziel: Das Stadion, sowie eine kleine Grünfläche mit Statuen der großen Legenden des Klubs. Erinnerungsfotos werden gemacht.

Und schon sieht alles wieder ganz anders aus. Eine Fußgängerzone mit leeren Lokalen, deren Plastikstühle unter den Marquisen auf Gäste warten. Bunt bemalte Betonbälle säumen eine Straße. Alte Damen sitzen auf Holzbänken und tauschen den neuesten Tratsch aus. Weiter unten ein geschäftiger Platz. An einer Hauswand prangt eine gigantische Leuchtreklame, die Werbung für Disney zeigt, Taxen rasen vorbei. „Kadiköy oder New York?“, frage ich mich unweigerlich. In Mitte dieser farbenfrohen, lebhaften Gegend stolpern wir in ein Restaurant mit veganem Frühstücksmenü. Wir tauschen kurz ein zustimmendes Nicken aus: Ja, Frühstück um drei Uhr nachmittags ist absolut legitim. Wir sitzen auf der Terrasse, eine weiß-gelb karierte Tischdecke zwischen uns. Die Kellner fragt drei Mal, ob wir wirklich Mokka trinken wollen – der sei doch so stark. Ja, wollen wir.


Über uns baumeln die blauen Nazar-Augen, die in der Türkei an jeder Ecke auf dich herabblicken. Schwarze Pupille, hellblaue Iris, weißer Kreis, dunkelblauer Hintergrund. Das Symbol soll vor sprichwörtlich bösen Blicken schützen. Bunte Girlanden und Blumenketten schmücken das kleine Café, in dem wir eine Pause einlegen. Ein Junge bedient uns, bringt uns „frischen Saft“, wie ihn uns seine Mutter verkauft hat. Schmeckt aber eher nach Tetrapack mit zugesetztem Zucker. Die Helva-Pfannkuchen, die uns die Dame aufzuschwätzen versucht, lehnen wir danken ab. Schnell weiter.


Der Blick auf die Bosporus-Brücke ist atemberaubend. Wir stehen im Nakkaştepe Millet Bahçesi-Park, eine Erholungsoase mitten in der Metropole. Um uns herum wachsen hohe Bäume. Es gibt Picknick-Plätze für Familien und sogar einen Kletterpark. Doch wir haben nur Augen für das gigantische Bauwerk, die von zwei Pfeilern gehaltene Verbindung zwischen Europa und Asien. Lastwagen, Busse und Autos rasen darüber. Der Puls der Stadt, der niemals versiegt.

Wir laufen entlang der Autobahn, um zur Fähranlegestelle zu gelangen. Das beinhaltet auch spontane Wechsel der Straßenseite, wobei wir wiederholt über hohe Leitplanken klettern müssen. Wir kommen an, die Fähre auch, und wenig später tuckern wir über den Bosporus, unter der gigantischen Brücke durch. Die untergehende Sonne versteckt sich zwischen den Wolken und lässt nur ein paar zarte Farbtöne durch die dichte Decke blitzen. Der Wind streicht uns durch die Haare. Feierabend-Stimmung. Auf dem letzten Marsch des Tages, dem Weg zum Abendessen, finden wir plötzlich – noch ein Fußball-Stadion. Halleluja!

Mittwoch
Wir haben die Fähre fast verpasst, doch dann sitzen wir an der Reling, neben ein paar türkische Schüler gequetscht. Ein Mädel mit rot geschminkten Lippen und Nasen-Piercing. Ein Junge in Mom-Jeans und weißer Bluse, mit lackierten Fingernägeln und Ohrringen. Sinnbildlich für diese weltoffene Stadt in einem islamisch geprägten Land. Während wir uns über das tiefblaue Wasser von der Metropole entfernen, dreht ein Simit-Verkäufer seine Runden. Die Sesam-Ringe auf seinem Tablett so hoch gestapelt, dass die Obersten gar nicht anders können, als runterzufallen. Ein Einheimischer greift zu, bevor wir dazu kommen. Sonnenschein im Gesicht, Wind im Haar und nicht eine Sorge im Kopf.


Fast zwei Stunden später steigen wir in Büyükada aus, die größte der der neun Prinzeninseln. Eine Inselgruppe circa zwanzig Kilometer von Istanbul entfernt, wo die Oberschicht der Millionenstadt gerne dem Trubel entflieht. Besucher strömen durch die engen Gassen, die hier schicker und polierter aussehen als auf dem Festland. Souvenirläden verkaufen Blumen-Haarbänder und Deko-Artikel aus Muscheln. Es gibt Eisdielen, deutsches Brot in den Bäckereien und viele Menschen in Badeklamotten. Steht man am Hafen und blickt auf die Stadt, ist kein Ende in Sicht. Istanbul scheint sich unendlich weit in alle Himmelsrichtungen zu erstrecken.


Autos dürfen hier nicht fahren, nur elektrische Busse. An jeder Ecke findet sich ein Fahrradverleih und nahezu jeder Besucher ist auf einem unterwegs. Wir mieten uns ebenfalls welche. Sie kosten zwar nur ein paar wenige Euro für den gesamten Tag, sind aber ziemlich klapprig. Der Boss gibt uns noch eine Karte der Insel mit auf den Weg. 14 Kilometer lang ist eine Rundfahrt. „Easy“, denken wir uns. Dann kommen die ganzen steilen Berge. Am Ende schiebe ich mein Fahrrad die meisten Zeit. Die Gangschaltungen funktionieren nicht, eine Pedael ist kaputt. In der wunderschönen Natur der Insel haben Menschen zum Teil Müllberge abgeladen, was meinen Frust weiterwachsen lässt.


Pause in einem weitläufigen Restaurant. Auf dem Tisch stehen gefüllte Weinblätter, Bohnen und Auberginen in Tomatensoße. Neben dem Lokal geht es einen weiteren Berg hoch, den man jedoch zu Fuß erklimmen muss. Oben sollte uns eine griechisch-orthodoxe, „very famous“ – wie uns der Fahrrad-Verleiher versprochen hat – Kirche erwarten. Der Weg dorthin scheint sich ewig in die Länge zu ziehen. Das Essen kommt mir fast wieder hoch, Schweiß rinnt mein Gesicht hinab. Das Gotteshaus finde ich kaum so beeindruckend, wie den Ausblick. Auf die Sykline, die dicht bebaute Stadt und auf grüne Inseln im tiefblauen Wasser.


Wow. Außen süß und knusprig, Innen weich und warm. Mein erster Bissen Lokma. Ich bin sofort verliebt. Auch wenn wir Lokma auf der Reise öfter gegessen haben – nirgendwo haben sie besser als auf der Insel geschmeckt.

Mein Fahrrad gebe ich liebend gerne wieder ab. Zu Fuß fühlt sich sicherer an. Wir flanieren am Wasser entlang, treffen eine versteinerte Meerjungfrau („die sieht dir ähnlich“) und viele, viele Familien. Die Wohnhäuser sind groß, im Holzbau-Stil mit Erkern und Veranden. Sie könnten genauso gut in Florida stehen. Daneben immer mal wieder umzäunte Villen. Zurück auf die Fähre, dieses Mal setzen wir uns rein, lehnen uns in der gepolsterten Bank zurück. Gegenüber hat eine ältere Frau ihre Schuhe ausgezogen und sich über die komplette Sitzfläche hingelegt. Als wir fast schon wieder am Festland anlegen, geht die Sonne unter. Heute in den schönsten Sonnenuntergangs-Farben, die mich wieder an die Reling ziehen.

